Vieles bleibt im Dunkeln – mehr Prävention nötig
MÜNCHEN. Die Kriminologische Forschungsgruppe (KFG) im Bayerischen Landeskriminalamt veröffentlicht den aktuellen Jahresbericht „Kriminalität und Viktimisierung junger Menschen in Bayern 2022“. Der diesjährige Sonderteil befasst sich mit dem Phänomen „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im organisierten Sport“, der auf einer Analyse des polizeilichen Datenbestands allein jener Fälle sexuellen Missbrauchs basiert, die durch Tatpersonen unter Ausnutzung ihrer Vertrauens- und Autoritätsstellung begangen wurden. Zusätzlich wurden Experteninterviews durchgeführt, um einen tiefergehenden Einblick zu gewinnen. Der Schwerpunkt bei der Darstellung des aktuellen Forschungsstands liegt insbesondere auf den Erkenntnissen aus dem Dunkelfeld.
Michael Laumer (KFG), der das Phänomen näher untersucht, stellt fest, dass für das Jahr 2022 selten entsprechende Fälle polizeilich zur Anzeige gebracht und somit im Hellfeld erfasst werden. Dies geschieht in weniger als 2 Prozent aller Sexualdelikte mit kindlichen und jugendlichen Opfern und steht im Gegensatz zu den Erkenntnissen aus der Dunkelfeldforschung. Demnach waren je nach Studie ca. 20 bis 60 Prozent aller Befragten als Kind oder Jugendliche von sexualisierter Gewalt im Sportkontext betroffen. Die Diskrepanz zwischen Hell- und Dunkelfeld kann unterschiedliche Gründe haben. Häufig liegt es daran, dass erfolgte Grenzüberschreitungen von den Kindern nicht als solche wahrgenommen bzw. nicht richtig eingeschätzt werden. Zudem fällt es den Betroffenen wegen aufkommender Scham- und Schuldgefühle schwer, sich jemandem anzuvertrauen.
Die Ergebnisse aus der qualitativen Analyse der polizeilichen Vorgänge stimmen weitgehend mit jenen aus dem allgemeinen Forschungsstand und den Erfahrungen von Expertinnen und Experten verschiedener Beratungs- und Interventionsstellen überein. Im Vereinssport sind deutlich mehr Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu verzeichnen als im Schulsport. Bei der Mehrheit handelt es sich um sog. Hands-off-Delikte, wie verbale Belästigungen, Text- und Bildnachrichten mit sexuellem Inhalt sowie die Aufforderung, Nacktbilder zur Verfügung zu stellen. Vergewaltigungen sind äußerst selten. Die hauptsächlich alleinhandelnden Tatpersonen sind fast ausnahmslos männlich, größtenteils erwachsen und als Trainer oder Übungsleiter ehrenamtlich tätig. Das Geschlechterverhältnis der Opfer ist ausgeglichen. Der Modus Operandi der Tatpersonen vollzieht sich nach einem bestimmten und wiederkehrenden Muster: Sie nehmen gezielt Einfluss auf ihre Opfer, um sie für ein- oder mehrmalige sexuelle Grenzüberschreitungen vorzubereiten. Dabei schrecken sie unter Umständen auch vor massiver Einschüchterung nicht zurück. Die Kommunikation erfolgt in der Regel mittels Smartphones über Messenger-Dienste, insbesondere WhatsApp, um in geschützter Atmosphäre die Beziehung zum Opfer außerhalb des Trainingssettings zu intensivieren und zu sexualisieren. Die Tatörtlichkeiten sind in der Regel die Sport- und Trainingsstätten.
Um der sexualisierten Gewalt im organisierten Sport effektiv vorzubeugen, bedarf es weiterhin einer verstärkten Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung. Das Vorhandensein von Schutzkonzepten allein reicht nicht aus – sie müssen auch kommuniziert und umgesetzt werden. Dabei ist es wichtig, dass alle Beteiligten in Sportvereinen und Schulen umfassend und fortlaufend über die Inhalte und Ziele der Schutzkonzepte informiert werden. Hierzu gehören Kenntnisse über Gefährdungsfaktoren und Ansprechstellen auf verschiedenen Ebenen für Betroffene und Zeugen sowie klar vorgegebene Beschwerdewege und einfache Verhaltens- tipps, vor allem im Umgang mit betroffenen Kindern. Darüber hinaus sollten für Verantwortungsträger, wie Trainerinnen und Trainer sowie Lehrkräfte, regelmäßig Schulungen und Fortbildungsveranstaltungen angeboten werden. Nicht zuletzt scheint es erforderlich, niedrigschwellige Beratungsangebote nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern auch für Täterinnen und Täter zur Verfügung zu stellen.
Zur allgemeinen Entwicklung der Kriminalität durch junge Menschen in Bayern lässt sich feststellen, dass die Tatverdächtigenzahlen in allen Altersgruppen von 2021 bis 2022 deutlich zunehmen. Dabei weisen die tatverdächtigen Kinder (8- bis 13-Jährige) und Jugendlichen (14- bis 17-Jährige) einen stärkeren Anstieg auf (+37,6 % und +15,5 %) als die Heranwachsenden (18- bis 20-Jährige) (+6,5 %).
Auffällig sind die enormen Steigerungsraten beim Ladendiebstahl und bei der vorsätzlichen leichten Körperverletzung: Beim Ladendiebstahl steigt die Anzahl der tatverdächtigen Heranwachsenden um +52,7 Prozent und die der Kinder und Jugendlichen um +63,9 Prozent bzw. +66,8 Prozent. Auch wenn die Kinder bei der vorsätzlichen leichten Körperverletzung unterrepräsentiert sind, lässt sich bei ihnen ein beachtlicher Anstieg von +74,8 Prozent erkennen (Jugendliche: +33,8 %; Heranwachsende: +27,6 %). Ein weiterer hervorzuhebender Deliktsbereich ist die Gewaltkriminalität. Hier haben alle Altersgruppen deutliche Zuwächse zu verzeichnen, die von +23,6 Prozent (Heranwachsende) und +27,9 Prozent (Jugendliche) bis zu +33,8 Prozent (Kinder) reichen, wobei Kinder gegenüber den anderen beiden Altersgruppen deutlich geringere Tatverdächtigenzahlen aufweisen. Weiterhin beachtenswert ist, dass die Zahl der tatverdächtigen Kinder für die genannten Deliktsbereiche in 2022 weit über den erfassten Werten aus dem Vor-Corona-Jahr 2019 liegen. Der seit einigen Jahren festzustellende rückläufige Trend im Bereich Rauschgiftkriminalität setzt sich bei den Jugendlichen und Heranwachsenden fort (2021 bis 2022: -4,5 % bzw. -1,1 %), wohingegen die Tatverdächtigenzahlen der unterrepräsentierten Kinder um +21,3 Prozent deutlich ansteigen.
Hinsichtlich der Viktimisierung junger Menschen ist in 2022 eine Zunahme in allen Altersgruppen zu beobachten (Kinder: +26,9 %; Jugendliche: +25,2 %; Heranwachsende: +26,3 %). Auch bei der besonderen Tatörtlichkeit Schule steigt die Zahl der Straftaten von jungen Menschen an. Im Jahr 2022 werden 3.233 Straftaten mehr gezählt als noch in 2021, was einer Zunahme von +56,7 Prozent entspricht. Dieser sprunghafte Anstieg ist darauf zurückzuführen, dass der Unterricht im Jahr 2022 wieder weitestgehend normal stattfand und sich daher wieder mehr Personen im Bereich Schule aufgehalten haben.
Bericht: Bayerisches Landeskriminalamt